Wartezeit

Die Uhr an der Wand tickte nicht. Sie stand still, aber niemand schien es zu bemerken. Im Wartezimmer saßen zwei Männer, beide über ihr Smartphone gebeugt. Sie tippten mit ihren Daumen wohl einen ganzen Roman. Eine Frau auf der anderen Seite schlug regelmäßig die Beine übereinander, sah auf ihre Armbanduhr, seufzte.

Ich saß einfach da. Meine Hände lagen reglos im Schoß. Ich beobachtete. Niemand sprach. Das Schweigen war steril. So steril, wie die Wände. Nur der leise Summton der Neonröhren flimmerte in der Luft.

Nach einer gefühlten Ewigkeit – vielleicht auch nur ein paar Sekunden – öffnete sich die Tür. Ein Mann in weißem Kittel trat heraus.


„Sie jetzt“, sagte er und winkte mich mit einer knappen Bewegung herein.

Ich trat ein. Der Raum war grell erleuchtet. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Akten. Der Arzt wirkte, als wäre er selbst Teil einer Maschine – eine Funktion, nicht eine Person.
Er sah mich nicht an, sondern sprach gleich los:

„Ich habe keine Zeit“, sagte er. „Ich habe viel zu tun. Es liegt noch viel Arbeit vor mir. Sie sind nicht mein einziger Patient.“


Er atmete nicht zwischen den Sätzen. Was er sagte, klang stolz und einstudiert. Als wäre sein akuter Zeitmangel, von dem er berichtet, eine Auszeichnung.  


„Ich würde Ihnen gerne helfen“, fuhr er fort, „aber mir fehlt es momentan an Zeit. Kommen Sie später wieder. Kommen Sie, wenn ich Zeit habe.“

Ich nickte nicht. Ich verstand nicht. Ich war nur müde. Ich drehte mich um, griff nach der Tür. Hinter mir rief er: „Ach ja – richten Sie bitte Ihren Eltern aus: Ich habe keine Zeit! Vielen Dank! Bis bald! Ach ja – schließen Sie bitte die Tür hinter sich! Vielen Dank! Bis bald!“

Ich schloss die Tür leise. Ich hatte Angst, dass ich zu schnell den Raum verlassen würde, weil ihm noch ein paar Sätze einfallen könnten.


Zurück im Wartezimmer. Jetzt sahen die beiden Männer auf ihre Uhren. Die Frau blickte auf ihr Handy. Wenn sie nicht ihre Rollen getauscht hätten, wäre es ein ganz gewöhnlicher Arztbesuch gewesen. Ich bin von der Abwechslung überrascht. Alle drei sahen gleichzeitig zu mir. Einer fragte: „Sind Sie fertig?“ Ich antwortete nicht.


Sie starrten mich an, als würden sie erwarten, dass ich etwas ausrichte. Dass ich verkünde, wer jetzt an der Reihe sei. Dass ich ein System weiterführe, das ich nie verstanden habe.

Ich stand einen Moment lang da. Dann verließ ich das Wartezimmer. Die Tür schloss sich lautlos hinter mir. Draußen war es dunkel geworden. Die Straße war leer. Der Wind trug das helle Straßenbahngeklingel, als würde ein einsamer imaginärer Triangelspieler neben der Tram herlaufen, heran. Ich ging langsam nach Hause, um Mama und Papa auszurichten, dass der Mann keine Zeit hat.


Jeder Schritt war leicht.

Ich dachte nach.

Ich dachte: Ich verschwende meine Zeit, weil niemand Zeit hat.

Martin W. Zaglmaier

Jahrgang 1995 | im Juni 1995 in Halle an der Saale geboren | ab 2012 als Mitarbeiter in einer Galerie für Bildende Kunst Mitteldeutschlands tätig | vom Nov. 2015 bis Okt. 2016 das Fernstudium "Lyrisches Schreiben" bei "Bibliothek Deutschsprachiger Gedichte" (BdG) absolviert